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Report: Parliaments and Political Transformations in Europe and Asia: Diversity and Representation in the 20th and 21st Century

by | Apr 6, 2019 | Nezařazené | 0 comments

Der erste Workshop des aktuellen ERC-Forschungsprojektes betrachtete die Rolle und Transformation von Parlamenten in imperialen und post-imperialen Kontexten des 20. und 21. Jahrhunderts. Ein besonders Augenmerk lag dabei auf der Geschichte der politischen Repräsentation sowie der deliberativen Entscheidungsfindung im parlamentarischen Diskurs. Der Workshop bot Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen, darunter Historikern und Politikwissenschaftlern, ein Forum und hatte den interdisziplinären Austausch zwischen Osteuropa- und Ostasienstudien zum Ziel.

Ein inhaltliches Hauptziel des Workshops bestand darin, bis heute weit verbreitete Stereotypen infrage zu stellen, wonach die Demokratisierung eines Landes oder einer Region als notwendige beziehungsweise unabdingbare Folge einer historischen Entwicklung erscheint. Es war deshalb ein besonderes Anliegen der Konferenz, die vielseitigen Formen und Schattierungen von Parlamenten und anderer repräsentativer Institutionen (so etwa Räte oder Kongresse) aufzuzeigen sowie deren Entstehung und Transformation innerhalb eines spezifischen historischen, geographischen und politischen Kontextes zu skizzieren. Die Tagung war in fünf Themenfelder untergliedert, anhand derer unterschiedliche Facetten, Parallelen und Dynamiken der Parlamentarismus-Forschung aufgezeigt und strukturiert dargestellt werden konnten.

Die Sprecher der ersten Sektion („Parliaments for Empire I“) befassten sich mit Parlamenten in imperialen Kontexten des frühen 20. Jahrhunderts. Im Mittepunkt stand dabei die Frage, inwiefern sich ethnische, kulturelle und sprachliche Diversität in den Parlamenten und im parlamentarischen Diskurs widerspiegelte. Die Referenten zeigten Möglichkeiten und Grenzen der parlamentarischen Repräsentation in spezifischen imperialen Kontexten auf und reflektierten darüber, ob oder inwiefern ethnische Minderheiten in den politischen Entscheidungsprozess eingebunden werden konnten.

ALEXANDER SEMYONOV (HSE University – Sankt Petersburg) betrachtete Asymmetrien und Probleme der Parlamentsentwicklung im Zarenreich, indem er diese der Entwicklung in westeuropäischen Staaten (Großbritannien und Deutschland) gegenüberstellte. Er betonte dabei besonders die Ungleichbehandlung nationaler Minderheiten (etwa Finnen und Polen) im Zarenreich und stellt diese Praxis als ein zentrales Problem für die Organisation des multi-ethnischen und fragmentierten Staates heraus.

EGAS MOINZ-BANDEIRA (Madrid) und NAN NIGEL ZHOU (Ohio) sprachen über die Rolle von Parlamenten im China des frühen 20. Jahrhunderts. Egas Moniz-Bandeira stellte heraus, dass die Einführung regionaler Parlamente in Tibet und Xinjiang dazu diente, die nationale chinesische Souveränität zu bewahren und sich vor den kolonialistischen Interessen europäischer Staaten zu schützten. Die regionalen Parlamente sollten die diversen Minderheiten an das chinesische Imperium binden und gleichsam die politische Legitimität der chinesischen Staatsführung untermauern. Nan Nigel Zhou betrachtete die Rolle bedeutender chinesischer Zeitungen und ging der Frage nach, inwiefern chinesische Parlamente beziehungsweise Repräsentationsorgane (die Nationalversammlung (1910–1911), der provisorische Senat (1912–1913) und der chinesische Kongress (1913–1914)) im zeitgenössischen medialen Diskurs dargestellt wurden. Außerdem stellte er heraus, dass kritische Zeitungen durch Abgeordnete der Nationalversammlung nicht unerheblich unter Druck gesetzt wurden, um die mediale Berichterstattung zu ihren Gunsten zu beeinflussen.

In der zweiten Sektion („Challenging the Transition Paradigm“) wurden unterschiedliche Parlamente im post-sowjetischen Raum nähergehend betrachtet. Die Sprecher gingen unter anderem der Frage nach, weshalb es in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zumeist nicht gelungen ist, effektive und belastbare Institutionen zu schaffen, auf deren Grundlage ein vitaler gesellschaftlicher Diskurs hätte ermöglicht werden können.

IVAN SABLIN (Heidelberg) stellte seine Analyse der Russischen Föderation in der Übergangsphase zwischen Kapitalismus und Sozialismus vor. Er betonte die besondere Problematik der äußerst komplexen konstitutionellen Gemengelage der Jahre 1990 bis 1993, die sich aus der Sowjetverfassung, fundamentalen Reformen während der Perestroika-Jahre sowie dem Aufbau russischer Institutionen ergab. Er schloss mit der These, dass die unklare Verteilung politischer Macht den Transformations- und Entwicklungsprozess der Post-Sowjetzeit erheblich beeinträchtigt hatte.

JULIAN G. WALLER (Georg Washington University, Washington, D.C.) analysierte diverse autoritäre Regierungen im post-sowjetischen Raum und stellte diese in Form einer vergleichenden quantitativen Analyse gegenüber. Dabei stützte er seine Forschungen auf umfangreiches Datenmaterial, das es ihm ermöglichte, die politische Entwicklung diverser postsowjetischer Staaten nachvollziehbar darstellen zu können. Von spezifischen Entwicklungsmustern, die sich aus der Visualisierung seiner Daten ergaben, zog er Rückschlüsse auf jene Faktoren, die die Herausbildung autoritärer Strukturen besonders begünstigten.

Im Gegensatz zur vorherigen Präsentation betrachtete MARISSA SMITH (Independent Researcher, San Jose) die Frage der parlamentarischen Repräsentation aus mikro-historischer beziehungsweise mikro-politischer Perspektive. Im Fokus ihrer Präsentation steht die Provinz Ochron-Aimag, die sich im nördlichen Zentrum der heutigen Mongolei befindet. Ihre detaillierten Forschungen auf regionaler Ebene zeigen, dass die Zentralregierung in Ulan-Bator bedeutenden und unrechtmäßigen Einfluss auf die Provinzverwaltung nimmt und mithilfe politischer Netzwerke in der Verfassung vorgesehene Rechte zur lokalen Selbstverwaltung untergräbt.

In der dritten Sektion („Parliamentarisms in the (Post-)Soviet Transformation“) betrachteten die Sprecher die Übergangsphase vom Sozialismus zum Kapitalismus und gingen der Frage nach, inwiefern sich der fundamentale gesellschaftliche Wandel in der Debatte um die Etablierung beziehungsweise Umbildung politischer Institutionen widerspiegelte.

MELISSA CHAKARS (Saint Joseph’s University, Philadelphia) präsentierte ihre Forschungen zum All-Burjat Kongress der spirituellen Wiedergeburt und Konsolidierung der Nation, dessen Mitglieder im Februar 1991 zusammenkamen. Sie stellte heraus, dass unter den Teilnehmer des Kongresses zwar weitgehender Konsens darüber herrschte, die kulturelle Autonomie, die Religion und die Sprache der Buryat bewahren und fördern zu wollen, die Frage nach der Organisation und politischen Neuausrichtung des Gebietes jedoch bedeutende Meinungsunterschiede zum Vorschein brachte.

CAROLINA DE STEFANO (University of Eastern Finland, Kuopio) befasste sich in ihrer Präsentation mit vom Volksdeputiertenkongress der UdSSR ins Leben gerufenen Komitees zur Lösung ethno-nationaler Konflikte. Seit den späten 1980er-Jahren wurde ein (wieder-)aufkommender Nationalismus in den Sowjetrepubliken zu einer ernsthaften Bedrohung für den Fortbestand der Sowjetunion. Sie stellte heraus, dass die Komitees zwar zur Konsensbildung zwischen den Sowjetrepubliken und der Zentralregierung in Moskau geschaffen waren, ihre Arbeit letztendlich jedoch Gegenteiliges bewirkte. Die gemeinsame Arbeit innerhalb der Komitees trug zur Allianzbildung der Republiken bei und stärkte den Willen ihrer Vertreter, für die nationale Unabhängigkeit einzutreten.

MANDUHAI BUYANDELGER (MIT, Cambridge, MA) thematisierte in ihrer Präsentation das politische Wahlsystem in der Mongolei, welches unter besonderer Berücksichtigung ökonomischer Aspekte sowie der Rolle von Frauen analysiert wurde. Sie verwies dabei auf den Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und einer zunehmenden Ökonomisierung der Parlamentswahlen. Außerdem stellte sie das Wahlsystem als strukturierende Kraft des mongolischen Alltagslebens heraus.

Im Fokus der vierten Sektion („Parliaments for Empire II“) standen das Deutsche Kaiserreich sowie das Osmanische Reich während des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

AYSEGÜL ARGIT (Heidelberg) ging in ihrem Vortrag der Frage nach, inwiefern die zweite osmanische Verfassungsperiode nach der Absetzung des damaligen Sultans Abdulhamid II. im Jahr 1908 und insbesondere die Widereinführung der Verfassung von 1876 im medialen Diskurs des Osmanischen Reiches wiedergegeben wurden. Sie stellt heraus, dass infolge dieser „konstitutionellen Revolution“ zahlreiche neue Zeitungen entstanden und die Verfassungsänderung zunächst von nicht-muslimischen Minderheiten begeistert begrüßt wurde.

BENOIT VALLIOT (EHESS Paris / EUI Florence) betrachtete in seiner Präsentation den Landesausschuss von Elsass-Lothringen zwischen 1874 und 1918 genauer und ging dabei der Frage nach, inwiefern die Etablierung des Landesparlamentes zur Integration der Grenzregion in das Deutsche Kaiserreich beitrug. Er präsentierte die These, dass das Parlament bei der Organisation und Administration der Region wichtige Aufgaben übernahm, jedoch während seiner gesamten Existenz nur begrenzte Macht innehatte.

Im Fokus der fünften und letzten Sektion („Parliaments and Nation Building“) standen Minderheiten des russischen Imperiums und die Frage, inwiefern der Diskurs um deren nationale Repräsentation in Parlamenten mit dem Prozess ihrer Nationsbildung im Zusammenhang steht.

ANTON KOTENKO (HSE University – Sankt Petersburg) befasste sich in seinem Vortrag mit der Frage, inwieweit sich der Diskurs um die Etablierung eines nationalen ukrainischen Parlaments im Laufe des langen 19. Jahrhunderts veränderte. Er bezog sich dabei insbesondere auf den ukrainischen Intellektuellen Mykhailo Drahomano, dessen Konzept keineswegs die Unabhängigkeit der Ukraine vorsah, sondern vielmehr darauf abzielte, das Russische Imperium in einen Föderalstaat mit ausgeprägter lokaler Selbstverwaltung umzuwandeln.

VIKTOR KRIEGER (Heidelberg) konzentrierte sich in seinem Vortrag auf die Rolle der Wolga-Deutschen innerhalb des russischen Imperiums und ging der Frage nach, in welcher Form die Debatte um die ersten Duma-Wahlen (1906) sowie um die Russische Konstituierende Versammlung (1917) in Zeitungen der Wolga-Deutschen wiedergegeben wurde. Er kam zu dem Ergebnis, dass die durch die Wahlen bedingten neuen Möglichkeiten zur politischen und kulturellen Partizipation zu einer wachsenden politischen Mobilisierung der Wolga-Deutschen führten. Dies spiegelt sich in zahlreichen Zeitungsartikeln des ersten nationalen Presseorgans „Saratower Deutsche Zeitung“ (gegründet im Januar 1906) wider.

Im abschließenden Beitrag betrachteten IRINA SODNOMOVA und JARGAL BADAGAROV (beide Heidelberg) den Entstehungsprozess von Regionalparlamenten der Russischen Föderation in den 1990er-Jahren. Ähnlich wie in der postsowjetischen Mongolei wurden auch im mongolisch-sprachigen Raum der Russischen Föderation – in Burjatien und Kalmückien – die Regionalparlamente als „Khural“ bezeichnet. Anhand der von Pasi Ihalainen et. al. herausgearbeiteten Parlamentarismus-Konzepte (Deliberation, Repräsentation, Souveränität und Verantwortlichkeit)[1] konnten die Autoren zeigen, dass der Khural in der heutigen Mongolei als ein trag- und funktionsfähiges Parlament verstanden werden kann, während die Regionalparlamente in Burjatien und Kalmückien in ihrer Funktionsweise der russischen Staatsduma gleichen und einen vitalen demokratischen Austausch kaum zulassen.

Es gelang der international und interdisziplinär zusammengesetzten Teilnehmerschaft der Tagung, ein differenziertes und vielschichtiges Bild des Parlamentarismus im 20. und 21. Jahrhundert in Europa und Asien zu zeichnen. Eine Analyse von Parlamenten in unterschiedlichen zeitlichen, geographischen und sozialen Kontexten verdeutlichte, dass solche repräsentativen Institutionen zwar grundsätzlich in der Lage sind, die vielfältigen politischen Strömungen einer Gesellschaft abzubilden und selbst die Interessen von Minderheiten im politischen Entscheidungsprozess zu berücksichtigen. Dennoch bedeutet die Schaffung einer parlamentarischen Vertretung nicht zwangsläufig, dass dadurch gleichsam ein fruchtbarer politischer Diskurs ermöglicht wird. Die Teilnehmer der Konferenz haben gezeigt, dass es vielmehr notwendig ist, die geeigneten gesellschaftlichen, rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen zu schaffen, um die parlamentarische Arbeit erfolgreich und produktiv zu gestalten.

Während Pasi Ihalainen, Cornelia Ilie und Kari Palonen in ihrem 2016 erschienen Sammelband argumentieren, dass Parlamente über Jahrhunderte eine zentrale europäische Institution darstellten[2], wurde anhand diverser Konferenzbeiträge deutlich, dass der Parlamentarismus spätestens seit dem beginnenden 20. Jahrhundert als ein globales Phänomen betrachtet werden muss. Selbst in jenen Gebieten, die nicht unter unmittelbaren Einfluss west- oder zentraleuropäischer Staaten standen – so etwa in Provinzen des späten chinesischen Kaiserreiches der Qing-Dynastie (Xinjiang, Tibet) sowie im Russischen Zarenreich und in der Ukraine – entstanden parlamentarische Vertretungen in unterschiedlichen Formen und Schattierungen.

Konferenzübersicht:

Sektion 1: Parliaments for Empire

Alexander Semyonov (HSE Saint Petersburg): Imperial Parliament for a Hybrid Empire: Representative Experiments in Early Twentieth Century Russia

Egas Moniz-Bandeira (Madrid): Mongolia, Tibet and Xinjiang and the Late Qing Parliaments, 1909–1911

Nan Nigel Zhou (Ohio State University, Columbus): Master, or Servant of Public Opinion? Reformist Literati Newspapers and Parliamentary Politics in China, 1905–1914

Sektion 2: Challenging the Transition Paradigm

Ivan Sablin (Heidelberg): The Soviet Parliamentary Moment: The Russian Federation as a Congress Republic between Socialism and Capitalism, 1990–1993

Julian G. Waller (George Washington University, Washington, D.C.): Printing Madly and Rubber-Stamping Across the Post-Soviet Space: Authoritarian Legislative Activity in Comparative Perspective

Marissa Smith (Independent Researcher, San Jose): The Management of Representation: Centralized, Majority Ethnic, National Government Versus Transborder Ethnic Minorities’ Networked Power in Postsocialist Mongolia

Sektion 3: Parliamentarisms in the (Post-)Soviet Transformation

Melissa Chakars (Saint Joseph’s University, Philadelphia): Perestroika, Glasnost, and the All-Buryat Congress for the Spiritual Rebirth and Consolidation of the Nation: Political Organizations in Buryatia in the Last Years of the Soviet Union

Carolina de Stefano (University of Eastern Finland, Kuopio): Old Habits and a Revolutionary Content: The USSR Congress Commissions and Ethnonational Representation, 1989–1991

Manduhai Buyandelger (MIT, Cambridge, MA): Parliamentarianisms after Authoritarianisms: New Economies of Democratization and the Making of Electoral Subjects since 1990s

Sektion 4: Parliaments for Empire II

Aysegül Argit (Heidelberg): Political Thought in the Ottoman Press during the Second Constitutional Period: Between Nationalism, Diversity and Joint Identities

Benoit Vaillot (EHESS Paris / EUI Florence): The Alsace-Lorraine Landesausschußin the German Empire, 1874–1918: Integration of a borderland into an empire through provincial parliament?

Sektion 5: Parliaments and Nation Building

Anton Kotenko (HSE Saint Petersburg): From Sejm to Central Rada: Ukrainian Intellectuals and the Idea of Parliament in the Long 19th Century

Viktor Krieger (Heidelberg): The Struggle of a National Minority for Parliamentary Representation: Volga-German Newspapers and the Elections to the First State Duma (1906) and the Constituent Assembly (1917)

Irina Sodnomova / Jargal Badagarov (beide Heidelberg): Mongolia’s and Russia’s Khurals as Parliaments and Non-Parliaments

Anmerkungen:
[1] Vgl. hierzu: Pasi Ihalainen / Cornelia Ilie / Kari Palonen (Hrsg.), Parliament and Parliamentarism. A Comparative History of a European Concept, New York 2016, S. 1ff.
[2] Ebd., S. 10ff.

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